Page 9 - Walter Andreas Kirchner - Album
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zukommen. Eine kleine Rührseligkeit, die mit jedem Jahr bedeutsamer zu werden vorgibt.
                Es war und ist immer zu tun in Montignoso. Das Haus wurde erweitert und auf  den eigenen Bedarf
                zugeschnitten, italienische Nachbarschaften sind zu pflegen und deutsche Besucher zu betreuen, Sturm-
                schäden sind zu beheben und der Garten will bewässert werden. Kirchners vielseitige Handfertigkeit wird
                laufend in Anspruch genommen, denn – für alles und jedes da sein zu müssen und zu wollen, gilt ohnehin
                als eine verbürgte donauschwäbische Eigenart. So verwundert es nicht, dass für die Wahl Montignosos
                zum kirchnerischen Sommerdomizil keineswegs das nahe Seebad Viareggio und auch nicht die phantastische
                Küste der Cinque Terre, sondern schlichtweg die benachbarten Marmorbrüche bei Carrara entscheidend
                waren. Die Werkstatt, um es beim Namen zu nennen und nicht der verlockende Lido. Einer wie Walter
                Andreas Kirchner zieht nicht weiter, wenn der weltbeste Marmor nebenan gebrochen wird und der ausge-
                suchte Block im eigenen Garten behauen werden kann. So gehören seine südlichen Sommer in der Toska-
                na nicht der Erholung, sondern dem harten Ringen mit dem Stein. Jeder Sommer. Es sind die Abende, die
                der Familie gehören, den Freunden und den Gästen, den Nachbarn auch. Das Licht herunter gedreht, den
                vergangenen Tag noch einmal überdacht, den kommenden im Sinn.





                Hiobs Frage

                                                                                   Das Vollendete, das Abgeschlossene, das Fertige,
                                                                                   so endgültig und unwiderruflich – fürchterlich!
                                                                                                         W.A. Kirchner

                Holz, Bronze, Granit, Sandstein, Keramik, Aluminium, Kunststein – es wäre nicht Kirchner, hätte er nicht
                alles erprobt. Es ist eher das Suchen nach sich selbst als nach dem geeigneten Material, was ihn herausfor-
                dert mit Ungestüm – die Auslotung des Willens und der Handwerklichkeit. Immer auch der Drang zum
                Monumentalen. Es ist das Denken im Raum, das dem Künstler eine andere Dimension erschließt, ihm
                den Schritt über die Abgrenzung des Rahmens hinaus zumutet, auf  Plätze und in Gärten, schmückend
                und erinnernd, mahnend. Denn auch manches aus Erz und Stein hat, wie wir wissen, neben seiner Zeit
                auch seine Ewigkeit. Eins dient dem Triumph, ein anderes dem Untergang. Wer durchs Land reist und
                darüber hinaus, sieht die ehernen Helden mit erhobenem Schwert auf  freien Höhen stehen oder, auf
                Sarkophagen erstarrt, die großen Dome zieren. Es fehlen nicht die vielen Heiligen auf  Säulen, Brücken
                und in Grotten, und sowohl Eulenspiegel wie Störtebeker stehen unbeschadet auf der deutschen wie auch
                der kontinentalen Denkmalliste.
                Kirchner mag sich selbst nicht vorrangig als Bildhauer verstehen. Zu umfassend ist sein malerisches Werk,
                um es nicht gleichrangig neben seinen plastischen Arbeiten einzuordnen. Es mag indessen das Elementare
                sein, die Umformung des Steins in eine neue Unvergänglichkeit, was den Bildhauer in ihm herausfordert –
                die Versetzung eines materiellen Urstoffes in eine neue Gegenwärtigkeit. Es ist ein weiter Weg aus dem
                Steinbruch in der Toskana bis in Kirchners Pforzheimer Garten, in dem viele seiner Bildwerke zu sehen
                sind, ehe sie ihren Weg hinausfinden in die größere Öffentlichkeit. Neben Auftragsarbeiten sind es der
                Mythologie entlehnte Motive wie „Prometheus“ und „Hiob“, die ins Auge fallen, dazu Büsten von Ernst
                Jünger und dem Banater Heimatschriftsteller Adam Müller-Guttenbrunn – vornehmlich aus weißem
                Carrara-Marmor geschlagen, ruhend oder bewegt, Gestalt und Chimäre, Erde und Zwischenwelt.
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